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Donnerstag, 10. September 2015

Die Frage

Die Nacht verschluckt den letzten Schimmer ihres roten Kleides, beschwingt durchquert S den Park. Die letzten Kinderstimmen sind seit Stunden verhallt und eine gewisse Kälte schleicht sich ein. S zieht nervös ihren Lippenstift nach und wartet ungeduldig. Sie wippt von einem auf den anderen Fuß und führt so einen fast komischen Tanz auf. 

Sie streicht sich eine Strähne zurück, atmet durch und läuft ein paar Schritte auf das Gebüsch zu, das die Blicke der Straße von ihrem Purpur ablenkt. Inmitten von kleinen Zweigen blickt sie auf etwas Kleines, Weißes. Eine ganze Weile schweigt sie. So als würde IHRE Anwesenheit keine größere Rolle spielen. Auf dem Blatt befindet sie sich. Leise schlummernd. 

S gibt widerwillig zu, dass sie IHRE Nähe braucht, sie aufsaugt wie ein Schwamm Wasser. Am liebsten würde sie sie anfassen, den Kokon aufbrechen und sehen, was sich darin befindet. Sie ist schon so oft an ihr vorbei gelaufen und hat sie doch erst erblickt, als sie sich nach einem ruhigen Plätzchen zum Verschnaufen umgeschaut hat. Unauffällig und doch voller Schönheit hängt sie nun am seidenen Faden und bewegt sich nicht. 

S zieht ihren roten Mantel enger und verschränkt die Arme. Es ist Jahre her, seit sie das erste Mal friedlich mit sich selbst gewesen ist. Doch das Schicksal hat sich irgendwie verstrickt und verwoben und lässt sie nicht los. Von dieser komischen Raupe, wovon sie nicht einmal wusste, ob tatsächlich eine darin war. Was wäre, wenn es nur eine leere Hülle war? Wenn sich in ihr nichts als Luft befände? S läuft vor und zurück, gestikuliert, bleibt stehen, dreht sich wieder um und es scheint als würde der Kokon sich etwas im Winde bewegen. 

Der letzte Windhauch eines Gefühls.

S umklammert ihn fest. Es ist doch Jahre her, Jahre seitdem sie sich so allein gefühlt hat. Und wieso eigentlich? „Wieso laufe ich blindlings umher, in einem Park, dazu nachts, alleine?“ brütet S vor sich hin. Bockig blickt sie immer wieder auf den Kokon, der keinerlei Anstalten macht ihr zu antworten, geschweige denn sich großartig für sie zu interessieren. 

Irgendwo fährt ein Auto geräuschvoll durch eine Pfütze. Letzte Woche hatte S ihren Mantel reinigen müssen, weil sie zu nah am Wasser stand. Irgendwer platzt doch immer im falschen Moment herein und das Rot war wohl anziehend gewesen. 

Es ist wie bei einer Modenschau, nicht wahr? Als ob das eine Rolle spielen würde. Zuckerwatten-Duft macht sich breit und der Kokon wackelt minimal. S hat das Gefühl sie hat keine Beschäftigung und auch irgendwie keine Motivation. Die kriecht seit Wochen von Bett zur Couch und wieder zurück. Doch SIE, da drin, sie hat es wohlig warm. Als ob die Zeit das Rätsel lösen und die Lösung ihr dann Ruhe verschaffen würde. 

In der linken Manteltasche fühlt S, fühlt etwas Seltsames. Hatte der Kokon ihr gerade zugeblinzelt? Gesponnen war die ganze Situation und vor anderen wäre sie wahrscheinlich vor Scham im Boden versunken, wenn sie zugegeben hätte, dass sie alleine aufgrund eines Gefühls nachts im Park… 

Halt. 

Die Antwort.

Sie ist weder im Kokon, noch in ihrem Apartment zu finden, noch im Park. Sie kramt weiter in ihrer linken Manteltasche. Schwer. Schwer zu finden. Die Antwort.

Ob sich der Kokon wohl Gedanken darüber macht? Dass er eventuell möglicherweise und vielleicht doch nicht morgen schlüpfen könnte? Ach, als ob SIE da drin irgendwas von der Welt mitbekommen würde, so friedlich und sanft wie SIE da am seidenen Faden hängt. 

Die Antwort.

„Ja, die Antwort“ erwidert S genervt, immer noch in ihrer Manteltasche kramend. Da ist nur ein Kassenzettel, von der Reinigung des Mantels und ihr Haustürschlüssel, der ganz schön klappert. Vielleicht sollte sie die Schlüssel mal sortieren und einige davon an einen extra Anhänger hängen. Sie etwas aufhübschen. 

Irgendwer klimpert in die Tasten eines Klaviers. Die Nacht verschluckt den Klang und S streift kurz der Gedanke. Ist es denn tatsächlich möglich? Dass die Antwort gar nicht im Gehen liegt, nicht im Wandern von Ort zu Ort. Dass der Park nur der Fluchtort ist, den sie nach lauter Ausflüchten, wieso sie es nicht wagen sollte, aufgesucht hat. 

Die Manteltasche. Darin verborgen. Irgendwas berührt ihre Hand, bewegt sich langsam, fast ohne den Taschenboden zu berühren. Und doch ist da etwas. S hebt vorsichtig ihre Hand heraus, öffnet sie langsam und eine kleine unscheinbare Raupe blickt sie an. 

Die Straßenlaternen leuchten den Weg zum Morgen.

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